2013/07/15

Bewegungsbeobachtung in der Musiktherapie


In 'Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk' präsentiert Manfred Spitzer Forschungsergebnisse zur Musik und zur  Wahrnehmung derselben. Das flexible Gehirn passt sich den zu verarbeitenden Informationen beständig an. Üben lohnt sich. "Je besser man sich in einem bestimmten Sachgebiet auskennt, umso genauer verarbeitet man eine dieses Sachgebiet betreffende Information. ... Fachleute zeichnen sich somit dadurch aus, dass sie eingehende Informationen mit sehr viel bereits vorhandenen Informationen verknüpfen." (Spitzer, 2002, 187) Zu denken gibt jedoch: "Das Ausmaß an Erfahrungen, das ein Mensch mit Musik hat, wirkt sich auch aus auf die Art, wie er Musik im Kopf organisiert." (Spitzer, 2002, 211) 

Niemand muss Musik studieren um Musik zu hören und mit ihr etwas anfangen zu können. "Ohne jegliche bewusste Anstrengung kann fast jeder beim Hören von Musik die räumlich-zeitlichen Muster von an das Ohr dringender mechanischer Energie in Melodien, Harmonien und Rhythmen übersetzen. Er benutzt hierfür ein hohes Maß an gespeicherten Informationen über harmonisch schwingende Körper, Tonverhältnisse, Tonalität und wird zudem an frühere Ereignisse erinnert sowie in eine bestimmte Stimmung versetzt." (Spitzer, 2002, 212)
Musik wird mit dem ganzen Körper wahrgenommen. "Macht jemand Musik, so ist ... oft sein ganzer Körper "dabei". Es wundert daher nicht, dass neueste Studien zur Repräsentation von Musik im Gehirn ergaben, dass praktisch das gesamte Gehirn zur Musik beiträgt." (Spitzer, 2002, 212)
Körperliche Bewegung kann mit rhythmischer Musik sehr leicht angeregt werden.  "Akustische rhythmische Stimuli aktivieren Motorprogramme also stärker als visuelle rhythmische Stimuli." (Spitzer, 2002, 221)

Mit Rudolf Labans System der Bewegungsbeobachtung und der Rhythmisch-Energetischen Strukturanalyse (RES) von Karl Hörmann können Bewegung und Bewegungsbeobachtung in der Musiktherapie geschult werden. Die multimodale Musiktherapie lenkt die Aufmerksamkeit zunächst vom kognitiven Modus (Denken)wieder zurück zur Wahrnehmung des mit Sinnen ausgestatteten menschlichen Körper. Die Schulung der Wahrnehmung erfolgt in der Hörmann'schen Musiktherapie zugleich mit der Ausbildung und Schulung des Bewegungsapparates. Das Buch 'Tanzpsychologie und Bewegungsgestaltung' (Hörmann, 2000) bietet bereits ausreichend Material und Anregung zur Gestaltung eigener aktivierender Settings. Die Theorie zur Bewegungsschulung und ein vertiefendes Verständnis für die choreographische Arbeit liefern  'Choreutik. Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes (Laban, 1991) und 'Kinetografie - Labanotation. Einführung in die Grundbegriffe der Bewegungs- und Tanzschrift' (Laban, 1995, 1 . Aufl. 1955). Theorie und Praxis der Hörmann'schen Musiktherapie wird in 'Musik in der Heilkunde' (Hörmann, 2004) vertieft. Hier findet sich auch noch einmal eine Anleitung zur Bewegungsbeobachtung in komprimierter Form. "Körperattitüde: Zustand und primärer Einsatz des Körpers und von Körperpartien, führender Körperteil, Ausrichtung, vorwiegendes Shaping, Spannungslinien, Spannungspunkte, tote Stellen, erstarrte Muster, verharrend oder bewegt? Phrasierungen in Körperpartien und Mustern: meist vorbereitend, im Hauptthema, in Auflösungen, in Übergängen? Bevorzugte Haltung beim Liegen, Beugen, Sitzen und Stehen? Schattenbewegungen?" (Hörmann, 2004, 174 ff)

Gehirnforschung (Spitzer) wie musiktherapeutischen Forschung (Hörmann) verweisen auf die hohe Bedeutung der Multimodalität (Nutzung aller Sinne) und des Übens (Wiederholung) für die Ausbildung von Fähigkeiten (ressourcenorientierte Arbeit). Spitzer betont, wie oben gesehen, auch die hohe Bedeutung rhythmischer Stimuli für die motorische Aktivierung. Für ein vertiefendes Verständnis empfiehlt sich aber auch 'Einfach Üben. 185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten von Gerhard Mantel, denn dieses hervorragende Buch bietet weit mehr als nur eine stattliche Anzahl von Überezepten, denn Mantel weiß auch die vorgeschlagenen Bewegungen (Funktionsbewegungen, Sensibilisierungsbewegungen, Ausdrucksbewegungen und Verknüpfungsstrategien nicht nur gut zu erklären, sondern auch zu begründen. 

Den größten Umfang an Forschungsstudien liefert dennoch das Buch von Spitzer. Es eignet sich daher gerade für die wissenschaftlich Interessierten besonders gut als Nachschlagewerk zur Musikforschung. 

"Musik wird nicht nur mit dem Kopf gemacht und erlebt, sondern auch mit dem Körper. Dies zeigt sich am besten im Rhythmus, der uns zwar allen nicht im Blut liegt, aber doch im Körper, genauer in dessen motorischen System." (Spitzer, 2002, 227) "Auch sind wir bei der Wahrnehmung so auf Rhythmen eingestellt, dass wir diese wahrnehmen, selbst wenn sie gar nicht da sind. Ein gleichförmiger wiederholter Reiz wird rhythmisiert, wobei es sich um einen Gestaltwahrnehmungsprozess mit ganz bestimmten Randbedingungen handelt.
Es ist davon auszugehen, dass die Zeitkonstanten der an der Wahrnehmung von Rhythmus beteiligten Gedächtnisprozesse (Echogedächtnis, Arbeitsgedächtnis) nicht zufällig zu den Zeitkonstanten der genannten körperhaften Rhythmen passen. Vielmehr kann man vermuten, dass sich die zeitlichen Charakteristika der Gedächtnistypen aus den körperlichen Randbedingungen (also auf der Physik dessen, was auf der Output-Seite zu steuern ist) evolutionär ergaben. Die Physik des Körpers bestimmte die Physiologie seiner Steuerung, und beides wiederum die Physiologie seiner Wahrnehmung.
Dies zeigt sich nirgends deutlicher als beim Tanz, der Körper und Geist unmittelbar vereint." (Spitzer, 2002, 227) 

Spitzer nutzt einen wissenschaftlichen Stil. Er schreibt technisch, nicht lyrisch, regt kognitiv an. Einen zentralen Unterschied sieht Spitzer zwischen dem Lernen von Fakten (episodisches Lernen) und dem Üben von Fähigkeiten (prozedurales Lernen). Spitzer verdeutlicht die Nachteile der Lernstrategien, die das Kognitive überbetonen.
 "Das Lernen von Fakten geschieht prinzipiell sehr rasch. Wenn ich gut motiviert bin und mich für eine Sache wirklich interessiere, lerne ich Fakten sozusagen auf einen Schlag. ... Das Lernen von Fakten muss man daher im Grunde gar nicht eigens lernen. Nur wenn man es mit sehr vielen Fakten zu tun hat und das Lernen noch dazu langweilig ist (oder es dem Schüler zumindest so erscheint, vielleicht, weil er den Sinn nicht sieht), bedarf es einiger Tricks wie Eselsbrücken und gelegentlicher Wiederholungen oder Befragungen, um das Lernen zu beschleunigen. ...
Ganz anders steht es um das prozedurale Lernen, das Üben. Wer das Radfahren, Jonglieren, Tanzen oder Seiltanzen lernt, der muss sehr lange üben, bis er die Fähigkeit perfekt beherrscht. Beim Erlernen von Musikinstrumenten ist dies nicht anders. " (Spitzer 2002, 315 f.)

"Manche Kinder haben mit dem Üben Probleme, insbesondere dann, wenn sie nicht gewohnt sind, dass man auch langsam und graduell lernen kann. Dies ist gerade bei begabten, intelligenten Kindern nicht selten der Fall. Sie begreifen beispielsweise in der Schule alles sofort und haben daher kein Gefühl für langsames Lernen. ...
Man sagt in solchen Fällen manchmal über die rasch frustrierten Kinder, sie hätten das Lernen nicht gelernt. Das ist richtig, sollte aber ergänzt werden: Sie haben nicht gelernt, dass es einen Unterschied zwischen dem Begreifen eines Zusammenhangs (meist sprunghaftes explizites Lernen) und dem Aneignen einer Fähigkeit (graduelles implizites Lernen) gibt.
Das Begreifen geht bei Begabten sehr schnell. Dies hat ungünstige Folgen, wenn es als Modell für das Lernen überhaupt (und damit auch für das Üben) betrachtet wird." (Spitzer, 2002, 325)

"Egal, ob wir Autofahren oder Klavierspielen lernen, der Vorgang ist der gleiche: Zunächst müssen wir jede Einzelheit bewusst planen, und wir sind in Anbetracht der Komplexität der Bewegung (z.B. beim Schalten oder bei einem raschen Arpeggio) nahezu überfordert. Nach dem Lernen läuft das Arpeggio flüssig und wir meistern das Fahren spielend - während wir uns dabei zu allem Überfluss noch unterhalten." (Spitzer, 2002, 326)

Wird das Faktenlernen über- und das prozedurale Lernen unterschätzt, werden zwar gewisse intellektuelle Fähigkeiten gefördert, das multimodale Potential im Lernprozess jedoch bleibt ungenutzt. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob nicht auch Aspekte der körperliche Präsenz im Lernprozess berücksichtigt und genutzt werden sollten. Immerhin bieten Lehrer, Pädagogen und Therapeuten ein multimodal wahrnehmbares Modell für ihr mit Sinnen ausgestattetes Klientel. 

"Ob sie es wollen oder nicht, die Eltern sind in jedem Fall Modell für die Kinder. Üben oder musizieren Eltern zusammen mit Kindern, so geht der Effekt über das reine Üben weit hinaus. Die Kinder lernen nicht nur das Musizieren, sondern vor allem auch, wie sehr gemeinsames Musizieren Freude bereiten kann, und nehmen hieraus viel Motivation für das Üben an "ihrem" Instrument mit. Weiterhin hat gemeinsames Üben einen strukturierenden Effekt, und vor allem kleine Kinder lernen hierdurch im Laufe der Zeit, sich selbst zu strukturieren." (Spitzer, 2002, 329)

Richten wir den Blick auf den gestaltbaren sozialen Lernkontext, können die vielfältigen Möglichkeiten erkannt werden, mit denen angeregt, motiviert und strukturiert werden kann. Wenn das Ziel darin besteht, Lernstrategien zu optimieren, es also um zeitnahe Zielerreichung geht, sollten auch Strategien der multiplen Zielerreichung berücksichtigt werden, da der menschliche Körper über die Fähigkeit verfügt Sinneseindrücke parallel zu verarbeiten. Im RIM-Konzept stellt die Integrativität (I) den Oberbegriff, der auf das Zusammen im Sinne einer parallelen Verarbeitung verweist. Entsprechend schreibt Manfred Spitzer:              

"Kleine Kinder brauchen Input, der stimmig ist. Wenn es genau dort wackelt und raschelt, dann lassen sich Hören und Sehen zusammen verarbeiten. Die Eindrücke verstärken und stützen sich gegenseitig und liefern sehr robustes Material, aus denen sich Regeln ableiten lassen. ...
Aus dem Computer (oder dem Fernseher) kommen dagegen vergleichsweise sehr schlecht korrelierte Signale: Das Kind erlebt, was man als eine Bildsoße beschreiben könnte, zusammen mit einer Klangsoße." (Spitzer, 2002, 331)

Der Mensch ist als Sinneswesen in der Lage sehr vielfältige Umweltreize zu filtern. Die multimodale Fähigkeit der komplexen Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen kann ausgebildet, geübt und verfeinert werden. 

"Beginnen Kinder zu musizieren, so sollten sie die Töne so leibhaftig wie möglich erleben. Die Luft aus den eigenen Lungen, das Vibrieren der Saiten an den Fingern oder einfach das Hören der eigenen Stimme sind wichtige Erlebnisse." (Spitzer, 2002, 333)

In 'Musik im Kopf' beschreibt Manfred Spitzer aus neurologischer Perspektive das Musizieren und das Musikhören. Zum Begriff 'Musiktherapie' kommt der an der Psychiatrischen Klinik Ulm Tätige allerdings erst im letzten, gerade 15 Seiten umfassenden Kapitel 'Gesundheit, Medizin und Therapie'.

Literatur     
  • Laban, Rudolf (1995/1955)  Kinetografie - Labanotation. Einführung in die Grundbegriffe der Bewegungs- und Tanzschrift.
  • Laban, Rudolf (1991) Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes. Florian Noetzel: Wilhelmshaven.
  • Hörmann, Karl (2004) Musik in der Heilkunde. Künstlerische Musiktherapie als angewandte Musikpsychologie. Münster: Paroli.
  • Hörmann, Karl (2000) Tanzpsychologie und Bewegungsgestaltung, 2. Aufl., Münster: Paroli. 
  • Mantel, Gerhard (2001) Einfach üben. 185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten. Mainz: Schott.
  • Spitzer, Manfred (2002) Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Stuttgart: Schattauer.

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